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Ehrung für einen Dichter? Merkwürdigkeiten im Verhältnis zwischen Calw und Hermann Hesse

Meldung vom 10.05.2010

Dichter sind bisweilen unbequeme Menschen. Nicht weil sie vielleicht zu sehr dem Alkohol frönen, Schweißfüße haben oder erotische Absonderlichkeiten, sondern das tun, wozu sie besonders befähigt sind: Sie gehen mit Worten um, montieren Sätze, entwerfen Phantasiegebilde oder spiegeln die Wirklichkeit wider mit dem Mittel der Sprache. Und weil die Früchte solchen Schreibfleißes nicht jedermann gleichermaßen bekömmlich sein wollen, so schafft sich ein Dichter unwillentlich Feinde. Die harmloseren darunter pflegen ihre Gegnerschaft im Stillen, indem sie einfach die Bücher nicht kaufen, was zwar den Wortartisten finanziell schmerzen mag, doch sonst keine Weiterungen nach sich zieht. Die anderen indes, die des Dichters Werke nicht mögen, suchen nach sämtlichen Mitteln, das Ansehen des Missliebigen zu verdunkeln, seine Leistungen zu schmähen und – wenn irgend möglich – eine Ehrung zu verhindern. Selbst ein Literaturnobelpreis kann die Gegner nicht versöhnlicher stimmen, obwohl sie sich andererseits heimlich ganz gerne in dem Ruhm sonnen, den eine solche Auszeichnung mit sich bringt. So ist das Verhältnis zwischen dem Dichter Hermann Hesse und seiner Geburtsstadt Calw von jeher – übrigens schon lange vor der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 1946 – von allerlei Merkwürdigkeiten geprägt gewesen, sogar post mortem.   Was zu allem literarisch bedingten Ungemach bei Hesse hinzukam, ist seine angebliche Faulheit. Ein Umstand, der die ehrsam schaffigen Bürger des schwäbischen Landstädtchens an der Nagold besonders umtrieb und aufregte. So hatte noch in den frühen 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts der Calwer Gerbermeister Balz verächtlich in eine Fernsehkamera geschnaubt: „Der isch bloß uff dr Bruck romgstanne ond hot gfaulenzt.“. Manche Erinnerungen haften eben, und sei es die an den jugendlichen Hesse in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts, der sich dann und wann auf seinem Lieblingsplatz, der Nikolausbrücke, aufhielt. Da aber vorgeblich fehlender Fleiß für die stark vom Pietismus geprägten Calwer etwas Schlimmeres war als eine Todsünde, fiel das jahrzehntelang beibehaltene Urteil über Hesse dementsprechend aus. Nichts hatte es geholfen, dass der Dichter seiner Heimatstadt mit den vielen „Gerbersau“-Erzählungen ein liebevoll gestaltetes Denkmal setzte, bereits mit „Peter Camenzind“ und „Unterm Rad“ ein bedeutender Autor geworden war und weltweit gelesen wurde. Dass Hesses Gesamtwerk rund 14 000 Druckseiten umfasst, von den 35 000 Briefen ganz zu schweigen, das konnte und kann manche Calwer mitnichten von ihrem Verdikt über den „faulen Hesse“ abbringen.   Gewiss – gänzlich ungetrübt war auch Hesses Verhältnis zu Calw nicht, wie sich manchen Briefen entnehmen lässt, deren Inhalt aber nur die Adressaten kannten. Noch einigermaßen friedlich formuliert Hesse am 13.3. 1908 an Wilhelm Schäfer: „Ausser Gerbersau kann ich die Welt nur subjektiv-lyrisch schildern, bei meinen Gerbersauer Gestalten aber habe ich auf einmal eine reine Freude an allem, wie es ist, an jedem Dreck und an jeder Redensart.“ Und was hätten die Calwer aufgejault, hätten sie Hesses Brief vom September 1908 an Eberhard Goes gekannt: „Zu Euch käme ich gern einmal, obwohl ich Sauerkraut und Spätzle noch für teuflische Erfindungen halte.“ Mit ätzender Schärfe hält Hesse Rückschau in einem Brief an Herbert Roch vom September 1936: „Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, und ob Sie die Möglichkeit hatten, Fabrikarbeiter in jener Epoche zu beobachten, wo sie sich zwar langsam als Klasse, und zwar als ausgebeutete, zu erkennen begannen, aber von irgendeiner Organisation und Klassenzucht noch nichts wussten. Während meiner Kinder- und Jünglingsjahre war die jüngere Arbeiterschaft in Calw das Übelste, was sich ein Bürger unter Proletariern vorstellen kann, ein richtiges Pack. Während der Stunden, in denen die Fabriken geschlossen waren, konnte man kaum durch eine Straße gehen, ohne von jugendlichen Arbeitern beleidigt, ja manchmal gepufft und tätlich provoziert zu werden – dabei war ich der Sohn ganz armer Leute, die jeden entbehrlichen Pfennig den Armen gaben. Den Frauen und Mädchen wurden Unanständigkeiten nachgerufen. Ich habe seit damals gefährlichere Formen des Menschentums gesehen, aber nie wieder so hässliche.“   Schwer hat sich Calw stets mit seinem berühmtesten Sohn getan, vor allem dann, wenn es darum ging, den Dichter ehren zu sollen oder zu wollen. Das begann schon lange vor der Zeit, als „Siddhartha“, der „Steppenwolf“ oder das nobelpreisgekrönte „Glasperlenspiel“ erschienen waren. Im August 1950 schreibt Hesse an den Schweizer Germanisten Professor Karl Schmid folgendes: „Daß die Schwaben mich zur Zeit wieder als den Ihren betrachten, nehme ich nicht so furchtbar ernst. In meinem Heimatstädtchen Calw tauchte einst im Gemeinderat, etwa 1914 oder 15, der Vorschlag auf, eine Straße nach mir zu taufen oder eine ähnliche Gebärde der Anerkennung zu machen. Doch war die Mehrzahl der Stimmen dagegen, und als bald darauf einiger harmloser aber nicht kriegsbegeisterter Äußerungen wegen eine Zeitungshetze gegen mich ausbrach, und man in mir eine am deutschen Busen genährte Schlange entdeckte, waren die Calwer sehr froh, dass sie einer Blamage entgangen waren. Noch komischer war es in Konstanz. Dort wurde irgend ein neues Sträßchen „Hesse-Weg“ getauft, weil ich etwa 7 Jahre am See gelebt hatte, und der Name blieb bis 1933 auf der Tafel stehen. Dann war er untragbar geworden, und es wurde der Name meines einstigen Freundes Finckh [Ludwig Finckh, der Verfasser des Romans „Rosendoktor“. S.G.] auf die Tafel gemalt. Und als dann 1945 Hitler verschwunden war, wurde Finckhs Name wieder ausgekratzt und der meine wieder drauf gemalt. Der Teufel soll diese An- und Aberkennungen ernst nehmen.“   Was Konstanz recht war, konnte Calw nur billig sein, zumal die Anfälligkeit für braunes Gedankengut sich längst vor 1933 im Nagoldtal breitgemacht hatte. Ernst von Salomon schildert in seinem autobiographischen Bestsellerroman „Der Fragebogen“ sehr anschaulich (S. 346 ff.), wie die Reichstagswahlen 1930 in Calw verliefen. Salomon hatte seinen Freund, den Maler Rudolf Schlichter besucht, und erlebte, wie nicht nur die Nationalsozialisten in der Calwer Region ein überwältigendes Ergebnis einfuhren, sondern auch, wie die Bevölkerung ehrfürchtig auf vorbeifahrende SA-Trupps reagierte: „Dies freilich hatte ich noch nicht erlebt: das Land, darüber konnte kein Zweifel sein, war nationalsozialistisch. Kein Bauer, der nicht grüßte, - die Kirchgänger grüßten, selbst der Pfarrer lüftete den Hut mit einem steifen - die Eisenbahner grüßten, die Polizisten, die Pförtner der Baumwollspinnerei, der sonntäglich leeren Anlagen der Wolldeckenfabrik, die Wärter der Sägemühle. Der Wagen raste kreuz und quer durch das Land, durch Dörfer, kleine Städte, Arbeitersiedlungen und Badeorte: kein Zeichen der Feindschaft, keine Geste des Missmutes, überall freudiger Zuruf.“ [Das war im Jahr 1930 wohlgemerkt! S.G.]   Natürlich wusste Hesse sehr genau um die politische Mehrheitsmeinung in seinem Geburtsort, als er 1931 (zusammen mit seinem Sohn Bruno) letztmalig Calw besuchte und gleich beim Eintritt ins damalige Hotel „Waldhorn“ dem Wirt sagte: „Halt mir die Calwer vom Leib“. Zwar ist dieser Ausspruch von interessierter Seite mehrfach bestritten worden, doch Hesse hat sehr wohl gegenüber mehreren Gesprächspartnern die Richtigkeit dieses Satzes bestätigt.   Verwunderlich daher überhaupt nicht, dass der inzwischen nationalsozialistisch gleichgeschaltete Calwer Gemeinderat im Jahr 1934 die Notwendigkeit sah, die optische Erinnerung an den ungeliebten Pazifisten Hesse aus dem Stadtbild zu entfernen. In der 20er-Jahren war (auf dem heutigen Hermann Hesse-Platz) ein schlichter Sandsteinbrunnen aufgestellt worden, der nur eingemeißelt den Namen „Hesse“ trug. (Das Bronzemedaillon mit dem Portrait des Dichters ist erst nach dem 2. Weltkrieg an dem Brunnen angebracht worden). Zunächst wurde der Brunnen auf Veranlassung der Stadt Calw an den Rand des Platzes versetzt, und zwar so dicht an ein Haus, dass niemand mehr zwischen Haus und Brunnen hindurchgehen konnte. Weil die Seite mit dem Hesse-Schriftzug zum Haus zugekehrt war, vermochten auch Passanten oder Touristen nicht mehr lesen, zu wessen Ehren der Brunnen einst gedacht war. Die Calwer selbst aber wussten natürlich sehr wohl darum, und so beschloss der um die politische Moral seiner Bürger besorgte Gemeinderat vier Jahre später, den Brunnen gänzlich aus dem Stadtzentrum zu verbannen. Den Hesse-Brunnen zu zerstören, das indes wagten die Stadtoberen doch nicht ganz. Er fand deshalb einen Platz vor der Turnhalle am Brühl, die Hesse bereits beschrieben hat. An dieser Stelle musste der Brunnen mehrere Jahrzehnte verharren, obwohl die Herrschaft der Nazis längst untergegangen war. Erst als in den 80er-Jahren der Hermann Hesse-Platz und die anliegenden Straßen zur Fußgängerzone umgemodelt worden waren, durfte der Brunnen an seinen ursprünglichen Standort zurückkehren.   Der Umgang Calws mit Hesse wird auch ausführlicher beleuchtet in den Lebenserinnerungen des ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Karl Moersch „Immer wieder war’s ein Abenteuer“, Stuttgart 2001. Moersch ging während der Nazi-Zeit in Calw zur Schule. Zwar haben sich bei den Zeitangaben in Moerschs Schilderungen ein paar Unstimmigkeiten eingeschlichen, doch wartet der Autor andererseits noch mit etlichen interessanten Einzelheiten auf.   Sich vom braunen Ungeist zu verabschieden, wollte manchen Calwern offenbar schwerfallen – übrigens durchaus zum eigenen Nachteil. Doch politische und ökonomische Kurzsichtigkeit ist nun beileibe kein Calwer Spezifikum. Bereits Ende 1946 hatten Hesses Freunde Ernst Rheinwald und Otto Hartmann den Verleger Hermann Leins dafür gewonnen, Hesses frühe und „schwäbische“ Schriften herauszugeben. Anfänglich war der Dichter nicht sonderlich entzückt, dass Leins der Verleger sein sollte, dessen Verlag bereits 1945 eine Lizenz von der französischen Besatzungsmacht bekommen hatte. Hesse argwöhnte, Leins habe sich gegenüber dem Nationalsozialismus opportunistisch verhalten, denn der Verleger hatte – wie Hesse-Herausgeber Volker Michels mitteilte – des Dichters schmales und erfolgloses Bändchen „Zum Gedächtnis meines Vaters“ angesichts des NS-Regimes verramscht und nach Kriegsende ohne Hesses Genehmigung neu aufgelegt. Rheinwald und Hartmann indes gelang es, die Bedenken Hesses zu überwinden, so dass die Sammlung „Gerbersau“ zum Jahresende 1949 erscheinen konnte – eine Sammlung von rund 40 Erzählungen überdies, in der Hesse seiner Geburtsstadt ein liebe- und stimmungsvolles literarisches Denkmal gesetzt hatte.   Obwohl der Dichter um mancherlei Engstirnigkeit eines Teils der Calwer Bürgerschaft wusste, obsiegte zunächst Hesses unverbrüchliche Liebe zu seinem Heimatort. Diese aber wurde dann mächtig enttäuscht. In einem Brief aus Montagnola Ende August 1947 an den Verleger Leins schreibt Hesse verbittert: „Die Redaktion der Gerbersauer Ausgabe habe ich meinen Freunden Hartmann und Rheinwald überlassen. Den Ertrag hatte ich eine Zeitlang der Stadt Calw zugedacht, doch bekam ich inzwischen auch aus diesem Städtchen treudeutsche Briefe mit so dummen und so wüsten, ja säuischen Schmähungen, dass ich die Lust verloren habe. Ueber die mir dann gutgeschriebenen Tantiemen werde ich also erst später verfügen.“ Die bis dahin wenig rühmenswerte Geschichte zwischen Calw und seinem größten Sohn war um ein weiteres schmähliches Kapitel bereichert.   Zur bundesweit belachten Lokalposse artete jedoch etwas aus, an dem ebenfalls vorzugsweise Calwer Gemeinderäte mitstrickten. Im Jahr 1957 hatte der Stadtrat Dr. Adolf Geprägs den Antrag gestellt, das örtliche Gymnasium am Schießberg nach Hesse zu benennen. Geprägs aber, vormals Stadtpfarrer in Calw, hernach Lehrer und Vertrauenslehrer am Gymnasium und gleichzeitig Stadtrat, hatte die Gemengelage sowohl beim Gemeinderat als auch beim Lehrerkollegium falsch eingeschätzt. „Blauäugig“ sei er damals gewesen, erzählte Geprägs dem Verfasser und ergänzte „Mit so einem Widerstand habe ich nie gerechnet.“ Geprägs kannte Hesse persönlich und korrespondierte mit ihm, und möglicherweise hatte diese Bekanntschaft des Pädagogen Auge getrübt für die wirklichen Calwer Animositäten gegenüber Hesse. Jedenfalls fiel der Antrag auf Umbenennung der bis dahin namenlosen Schule in der entscheidenden Gemeinderatssitzung glatt durch; nur eine einzige Stimme, nämlich die von Geprägs selbst, fand sich zugunsten von Hesse. In einer eilends einberufenen und recht turbulent verlaufenden Lehrerkonferenz (nach dem negativen Gemeinderatsvotum!) sprach sich die Mehrheit der Pädagogen ebenfalls gegen Hesse als Namensgeber des Gymnasiums aus.   Diese Haltung der meisten Lehrer kam nicht von ungefähr. Denn wer legte sich damals schon gerne mit dem Direktor der Schule an, der noch reichlich autoritär herumfuhrwerkte und Schüler ohrfeigte, bis ihn die Strafanzeige eines erbosten Vaters zu Raison brachte. Direktor Alfred Locher hielt es für eine Zumutung, „sein“ Gymnasium nach einem Autor benennen zu lassen, den er vor etlichen Ohrenzeugen (der Verfasser gehört dazu) so in Salonschwäbisch charakterisierte: „So a unanständigs Buch tät ich noch nicht mal meiner Frau zum lese gebe“. Gemeint damit war Hesses „Narziß und Goldmund“. Locher, wegen seiner NSDAP-Zugehörigkeit einige Jahre mit Berufsverbot belegt (wie einige andere Lehrer des Calwer Gymnasiums ebenfalls, ausweislich der Akten der Entnazifizierungsbehörden), beließ es jedoch keineswegs bei diesem Ausfall gegen das Werk des Nobelpreisträgers Hesse, sondern gab seinem Unmut auch andernorts mehrfach Ausdruck. Nach der Negativentscheidung des Calwer Gemeinderates freute sich Locher, denn dadurch war dem Direktor einige Seelenpein erspart geblieben.   Die Häme über die Calwer Ehrversagung gegenüber Hesse ließ nicht lange auf sich warten. Wohl hatte es 1958 einen anonymen „Spiegel“-Artikel gegeben, in dem Hesse zum alten Eisen gezählt wurde, doch bundesdeutschen Feuilletons war die merkwürdige Entscheidung der Stadt Calw manch höhnisches Wort wert. Auch die baden-württembergische Landesregierung war entsetzt ob der calwischen Sperenzien mit einem weltbekannten Dichter, doch was konnte schon anderes getan werden, als geballten Unwillen an die Nagold zu schleudern? Insonderheit, weil ein CDU-Parteifreund in Calw als Gemeinderatsmitglied und späterer, langjähriger CDU-Fraktionsführer massiv Stellung bezogen hatte gegen die Gymnasiumsbenennungspläne. Erst sehr spät hat der kommunalpolitisch zweifelsohne verdienstvolle und deshalb mit der Ehrenbürgerwürde von Calw (wie Hesse selbst auch) ausgezeichnete Richard Bauer in einem Gespräch mit dem Verfasser Ende der 90er-Jahre eingeräumt: „Ja, da habe ich einen Fehler gemacht und ich bedaure das auch sehr“.   Aparterweise hielt 1962 (also fünf Jahre nach der auch von Bauer emsig befürworteten Nichtbenennung des Calwer Gymnasiums) am Grab des Dichters ausgerechnet Richard Bauer als Stellvertreter des Bürgermeisters die Totenrede namens der Stadt, unter anderem mit den Worten: „ Die alte Stadt im Schwarzwald will sich bemühen, das Vermächtnis und das Andenken des großen Verstorbenen an die kommenden Generationen weiterzugeben. Wir wollen sammeln und bewahren, was uns an sichtbaren Erinnerungen geblieben ist und uns bewegen lassen von seinem hinterlassenen Werk.“ (vgl. W. Staudenmeyer, Hermann Hesse und Calw, S. 59).   Nun, allzu weit her war es nicht mit dem Weitergebenwollen von Andenken und Vermächtnis. Denn es dauerte noch einmal fünf weitere Jahre nach des Dichters Tod, bis endlich ein erneuter Anlauf genommen wurde, dem Gymnasium den Namen Hermann Hesses zu geben. Inzwischen nämlich hatte Hesse Millionen neuer Leser gewonnen; durch die Hippie-Bewegung in den USA war ein wahrer Hesse-Boom ausgebrochen; auch in Fernost blühte das Geschäft mit Hesse-Büchern, und zahlreiche Touristen, vor allem Japaner, hatten sich auf die Spurensuche in Hesses Heimatstadt gemacht. Also schien es einigen weniger kleinkarierten Geistern in der Stadt Calw endlich an der Zeit, neben dem Hesse-Brunnen draußen am Stadtrand und dem Hesse-Geburtshaus am Marktplatz, auch dem Gymnasium den Namen des Dichters zu verleihen. Doch wieder bildete sich eine Fronde im Gemeinderat, angeführt von Fraktionsführer Bauer. Da war dann die Rede von den „jugendgefährdenden Schriften“ Hesses, von „verderblichem Einfluss“ und ähnlichen Pejorativen. Sogar der massive Druck seitens der Landesregierung vermochte die Parteifreunde in der Hesse-unwilligen Provinz nicht umzustimmen. Mit knapper Mehrheit – im Gemeinderatsprotokoll beschönigend als „einmütig“ umschrieben – wurde dann doch in Szene gesetzt, was Calw vor einer erneuten Blamage bewahrte: das Gymnasium durfte nach dem Dichter benannt werden.   Der Querelen aber schien es den Calwern noch nicht genug zu sein, denn nun entbrannte ein kurioser Streit im Lehrerkollegium des Gymnasiums, wobei selbst die Schülerschaft in zwei heftig sich bekämpfende Parteien zerfiel. Dieter-Wilhelm Mayer, damals Lehrer am Gymnasium, hat das in seinem 2007 erschienenen Büchlein „Vergeßlich und doch unvergeßlich“ aufgezeichnet und wird hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben: „Die Germanisten unter den Lehrern wiesen darauf hin, daß der erste Bindestrich wegzubleiben habe. Die Gegner erklärten, alle Gymnasien, die eine vergleichbare Entscheidung treffen mußten, hätten sich auf zwei Bindestriche geeinigt, Otto-Hahn-Gymnasium, Richard-Wagner-Gymnasium, ähnlich das Robert-Bosch-Krankenhaus. Trotzdem schloß sich das Kollegium nach langer Debatte der Schreibweise mit einem Bindestrich an. Als die Namensgebung mit einer großen Feier unter Anwesenheit von Hermann Hesses Bruder Bruno [hier irrt Mayer. Bruno war der Sohn Hesses. S.G.] begangen wurde und die Festversammlung zur Enthüllung des neuen Schriftzuges an der Schulhauswand schritt, gab es eine Überraschung. Unter den Augen der Festgemeinde zog der Schulleiter das schwarze Tuch von der Wand, und siehe da: das Hermann Hesse-Gymnasium hatte zwei Bindestriche bekommen, über Nacht. ‚HERMANN-HESSE-GYMNASIUM’ stand da zu lesen. Später erfuhr ich, dass die in dieser Frage oppositionellen Schüler sich nicht so rasch mit der ‚demokratischen Entscheidung’ des Lehrerkollegiums abfinden konnten, zumal da die Schülerschaft nicht um ihre Meinung gefragt worden war. Offenbar hatten ruhelose Geister den zweiten Bindestrich im Dunkel der Nacht angebracht. Der Schulleiter ließ den Hausmeister umgehend das nur mit schwarzer Farbe angebrachte Satzzeichen entfernen, doch zurück blieb lange Zeit ein häßlicher Fleck. Die Schüler nannten von da an ihre Schule ‚Bindestrich-Gymnasium’“   Und immer noch nach Jahrzehnten rumort es in Schülerkreisen, selbst bei ehemaligen Gymnasiumszöglingen, die partout einen Bindestrich zwischen Hermann und Hesse gesetzt haben sehen wollen. Dichter sind eben unbequeme Menschen – und für die Calwer erst recht.   (Bei den Zitaten ist die jeweilige Originalorthographie beibehalten worden)   Nachtrag: Wie der Calwer Stadtarchivar Paul Rathgeber mitteilte, findet sich in den Gemeinderatsprotokollen der Stadt Calw aus dem Jahr 1957 der öffentlichen Sitzungen nicht der Antrag von Dr. Geprägs. Dieser Antrag jedoch ist gestellt worden, wie Dr. Geprägs dem Verfasser mehrfach versicherte, und wie dies auch Karl Moersch in seinem Buch (siehe oben) anführt. Schließlich hätte ja auch ohne Antrag nicht abgestimmt werden können über die dann letztlich 1957 nicht vorgenommene Umbenennung des Gymnasiums. Die Tochter von Dr. Geprägs, Suse Zenzes-Geprägs, sandte dem Verfasser am 18. Januar 2010 ein Mail mit folgender Angabe: „Ich habe dazu in den Tagebüchern meines Vaters folgenden Eintrag gefunden: 25.4.1957: Gemeinderatsitzung um Hermann Hesse.“ Der daraufhin befragte Stadtarchivar Rathgeber bestätigt, dass dieser Antrag samt Aussprache tatsächlich am 25.April 1957 im Calwer Gemeinderat stattgefunden hat, jedoch in nichtöffentlicher Sitzung, worüber ein längeres Protokoll noch bei den Akten im Stadtarchiv existiert.   Aufgezeichnet von und Copyright 2010 by Sebastian Giebenrath

Zitat der Woche

„Der Kleinere sieht am Größeren das, was er eben zu sehen vermag.“

Aus Hermann Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“, 1943