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„Heiterkeit als höchstes Ziel“ bei Hermann Hesse

Meldung vom 02.09.2002

CALW. Von Ermüdungserscheinungen nach fast 280 Veranstaltungen keine Spur: Es war die letzte Lesung im Rahmen des Calwer Hesse-Festivals und eine der letzten Termine überhaupt – und der Saal war nahezu voll. Darüber freute sich nicht zuletzt Friedrich Schorlemmer selbst, der – sich der Zugkraft seines Namens durchaus bewusst – den Veranstaltern ein dickes Lob zollte: „Es ist großartig, was Sie in diesem Jahr auf die Beine gestellt haben, und es ist großartig, dass das so angenommen wird“, sagte der als einer der Köpfe der DDR-Bürgerrechtsbewegung prominent gewordene Pfarrer aus der Lutherstadt Wittenberg.   Er sei kein Hesse-Spezialist bekannte Schorlemmer zu Beginn eines rund einstündigen Vortrags, der sich mit der „kosmopolitischen Religiosität“ Hermann Hesses auseinander setzte. Wie sich aber sehr schnell herausstellte, war diese Entschuldigung wohl eher kokett gemeint. Schorlemmer entpuppte sich als jemand, der sehr tief in das Welt-, Gottes- und Menschenbild des großen Calwer Sohnes eingedrungen ist, verstärkt in den letzten Urlaubswochen, jeden Tag Hesse lesend, wie er seinen Zuhörern verriet. In einer kurzweiligen, lebendigen Mischung aus Hesse-Rezitationen, vom Blatt gelesenen Vortragspassagen, persönlichen Erzählungen und auch politischen Einschätzungen zeichnete Schorlemmer das Bild eines von vielen Feuilletonisten unterschätzten und sogar als „Gutmensch“ verlachten Dichters, der aber als moralische Instanz auch heute noch sehr aktuell sei. Denn Hesses Menschenbild beschränke sich nicht auf Kontinente und seine Religiosität nicht auf Konfessionen. „Sein Universalismus ist in der Individualität angelegt“, so Schorlemmer, der gerade darin „politische Folgen“ sieht. Von unpolitischer Innerlichkeit, die Hesse oft vorgeworfen wurde und wird, also keine Spur. Hesse fordere eigene Positionen heraus, schreibe aber keine vor. Er sei ein tief religiöser Mensch, aber weit davon entfernt, das Christliche als absolut zu setzen. Schorlemmer brachte das auf die einfache Formel: Tolerant ohne gleichgültig zu sein. Alle seine Werke seien letztlich als eine Verteidigung des Individuums zu verstehen, sagte Schorlemmer und räumte nebenbei ein, dass ihm die Lyrik weit mehr zusage als seine Romane.   Im Laufe seines Leben habe Hermann Hesse die gelassene Akzeptanz des Unvollkommenen gefunden, ohne den Glauben an das Vollkommene zu verlieren. „Heiterkeit als höchstes Ziel“, nannte dies Friedrich Schorlemmer und berichtete von seinen persönlichen Leseerfahrungen: „Wer einige Wochen jeden Tag Hesse liest, den überkommt ein wohliges Gefühl, eine tröstende Melancholie.“ Und gerade deshalb sei Hesse ein großer Dichter: „Weil ihn jeder verstehen kann“   Informationen zum Hermann-Hesse-Jahr 2002 unter: www.hesse2002.de oder 0180/5005669.

Zitat der Woche

„Oft ist die Welt schlecht gescholten worden, weil der, der sie schalt, schlecht geschlafen oder zu viel gegessen hatte.“

Aus Hermann Hesses Essay „Zarathustras Wiederkehr“, 1919