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Hesse-Herausgeber Volker Michels erhält Ehrendoktorat der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen

Meldung vom 04.11.2022

Volker Michels in seinem Hermann-Hesse-Editionsarchiv in Offenbach/Main

Volker Michels hat für seine Verdienste um die Herausgabe der Werke Hermann Hesses von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen ein Ehrendoktorat erhalten. Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, der an der Universität Tübingen von 1995 bis 2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs lehrte und seit 2015 Präsident der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft ist, hielt die Laudatio. Mit seiner freundlichen Genehmigung ist es uns möglich, diese Rede, die nicht nur viel über Volker Michels aussagt, sondern auch viel über die Bedeutung Hermann Hesses und seines Werkes in der heutigen Zeit aufzeigt, hier zu veröffentlichen:

Laudatio auf Volker Michels aus Anlass der Verleihung eines Ehrendoktorates der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen am 3. November 2022

Laudator: Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel (Tübingen)

Die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen ehrt heute mit ihrer Ehrenpromotion einen Mann, dessen Lebensschicksal durch die besondere Beziehung zu einem der größten deutschsprachigen Schriftsteller des 20 Jahrhunderts geprägt wurde: Hermann Hesse. I. Schon als Schüler hatte Volker Michels – tief beeindruckt von Hesses Schüler-Roman „Unterm Rad“ (1905) – Kontakt mit dem Dichter aufgenommen, der seinerseits dem Jungen geantwortet hatte. Eine Beziehung war entstanden, die sich später in der Tat als „schicksalshaft“ erweisen sollte. 16 Briefe des jungen Volker an Hesse sind im Schweizer Literaturarchiv nachweisbar. Hesse ist in dieser Zeit schon Autor des Suhrkamp-Verlags, dessen Verleger, Siegfried Unseld, durch eine literaturwissenschaftliche Promotion in Tübingen ein intimer Kenner der Hesse-Werke geworden war. So ergreift Volker Michels 1968 nach einer Umbruchphase im Suhrkamp Verlag die Gelegenheit, sich auf eine Lektoratsstelle zu bewerben, die er 1969 erhält, nicht zuletzt wegen seines Interesses für das Werk von Hesse.

Als Lektor des Suhrkamp Verlages betreut Volker Michels zunächst Werkausgaben u.a. von Robert Walser, Ernst Penzoldt und Stefan Zweig, bevor er sich mit Unterstützung des Verlegers immer stärker auf das Werk von Hesse konzentrieren kann. Das war auch nötig, denn Ende der sechziger Jahre ist Hesse bei der Literaturkritik in Deutschland weitgehend als literarisch konventionell abgetan worden, ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo er im Zuge der Protestbewegung der jungen Generation gegen Krieg und Rassismus zum „Kultautor“ aufgestiegen ist. Werke wie „Der Steppenwolf“ und „Siddhartha“ erzielen auf dem amerikanischen Markt Auflagen, die in die Hunderttausende gehen, eine Entwicklung, die nun auch den Suhrkamp Verlag veranlasst, Hesse-Werke auf dem deutschsprachigen Markt neu zu platzieren.

Volker Michels ist dafür jetzt der „richtige Mann“ am „richtigen Ort“. Er beginnt in Zusammenarbeit mit dem Nachlassverwalter Heiner Hesse, dem zweitgeborenen Sohn Hermann Hesses, ein Editionsprojekt im Suhrkamp Verlag, das für einen deutschsprachigen Autor seinesgleichen sucht. Es erscheinen unter seiner Ägide seit 1970 nicht nur eine umfangreiche Werkausgabe erstmals im Taschenbuch-Format, sondern auch Themenbände wie „Lektüre für Minuten“ (2 Bde: 1971 u. 1974) sowie Materialienbände zum „Steppenwolf“, zum „Glasperlenspiel“, zu „Siddhartha“, zu „Demian“, zuletzt auch zu „Naziß und Goldmund“. Sie dokumentieren bis ins Detail gut belegt nicht nur die Entstehungs-, sondern auch die Wirkungsgeschichte der Schlüsselromane Hesses. Mittlerweile unverzichtbare Instrumente der Hesse-Forschung, die durch diese Editionen erstmals breite Grundlagen bekommt.

Hinzu kommen zwei Bände „Über Hermann Hesse“ (1976 und 1977), in denen Michels weit verstreute Äußerungen von Zeitgenossen und Rezipienten Hesses zusammengetragen hat und noch einmal zwei Bände erstmals mit den politischen Schriften Hesses unter dem Titel „Politik des Gewissens“ von 1977 (1. Band: 1914-1932. 2. Band: 1932-1962). Sie widerlegen das Klischee, Hesse sei ein vor allem ein unpolitischer Autor der „deutschen Innerlichkeit“ gewesen. Nicht zu vergessen die Taschenbuch-Ausgaben im Insel-Verlag zu zahlreichen Themen und Schauplätzen, die sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen und das Werk Hesses auch auf diesem Gebrauchsniveau präsent halten.

Eine solche Editionsarbeit ist Grundlagenforschung im besten Sinn des Wortes. Ein Ein-Mann-Unternehmen, das nur durch eine effiziente Selbstorganisation möglich geworden ist. Nach und nach hatte sich Volker Michels denn auch – tatkräftig unterstützt durch seine Ehefrau Ursula – in seiner Wohnung in Offenbach ein Hessearchiv angelegt, das neben dem Archiv in Marbach und dem Schweizer Literaturarchiv in Bern mittlerweile das drittgrösste seiner Art ist. Es bildet die Grundlage für die Krönung von Michels Editionsarbeit: die 20bändige Ausgabe „Sämtlicher Werke“ (von 2001- 2007 mit einem detaillierten Registerband) und die auf 10 Bände berechnete Briefausgabe, die seit 2012 erscheint. Hier gilt es, aus den über 35.000 nachgewiesenen Briefen Hesses eine Auswahl zu treffen. Und alle diese Bände der Werke und Briefe sind mit ausführlichen Einleitungen und Kommentaren versehen. Um etwa 7.000 Seiten erweitert ist die 20bändige Hardcover-Ausgabe jetzt doppelt so umfangreich wie die Taschenbuchausgabe von 1970. Und das Dreifache an Briefen wird die 10bändige Ausgabe enthalten im Vergleich zu der vierbändigen Briefausgabe, die Michels mit seiner Frau und Heiner Hesse schon von 1973 bis 1986 herausgegeben hatte. Kurz: Die unermüdliche Grundlagenarbeit dieses Editors und Forschers ist Voraussetzung dafür, dass das Werk von Hermann Hesse einen sachlich angemessenen Platz in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts erhalten hat. Und auf dieser Grundlage kann man ihn dann streiten sehen wider die „schrecklichen Vereinfacher“ und herablassenden Literaturkritiker, die Hesse entweder literarisch als epigonal oder thematisch als Autor von Pubertätskrisen abzutun pflegen. Man sollte schon etwas mehr als den „Demian“ gelesen haben.

II. Was aber ist das für ein Werk, dem dieser Mann sein Leben verschrieben hat? Dessen nun schon Jahrzehnte dauernde Forschungs-, Editions- und Kommentierungsarbeit ein einziger Fingerzeig weg von sich auf Hesses Werk ist? Welche Impulse gehen von diesem Oeuvre aus, die auch für Gegenwart und Zukunft noch relevant wären? Was wären unausgeschöpfte Potentiale und bleibende Herausforderungen? Einige Gedanken dazu sind hier am Platz, für die dieser Mann, den wir heute ehren, die Grundlagen gelegt hat.

Wenn man davon ausgeht, dass wir in einer globalisierten Welt leben, für welche nicht nur die Geschäfte und Profite beim Handel zwischen den Nationen, sondern auch die Kommunikation zwischen Kulturen und Religionen essentiell geworden ist, wenn wir, sage ich, mit der Einsicht es ernst meinen, in der „einen Menschheit“ zu leben und diese nicht ökonomistisch reduzieren, dann hat dieser Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Intensität und Konsequenz wie nur wenige seiner Zeit Prozesse angestoßen, deren friedensstiftende Dinglichkeit wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr denn je spüren.

Noch vor dem 1. Weltkrieg hat Hesse – kontrafaktisch gegen den Zeitgeist des Wilhelminismus und eines europäisch-christlichen Triumphalismus – eine doppelte Abschiedsbewegung vollzogen: vom Rassismus und Kolonialismus einerseits, will sagen: von einem politischen und ökonomischen Herrschaftsanspruch des „weißen Mannes“ über alle nichtweißen Völker und von einem Missionarismus andererseits: einer Überlegenheit des christlichen Glaubens über alle andere, als „heidnisch“ verworfene Religionen, die es durch kirchliche Missionsanstrengungen zu eliminieren gilt. Nicht zufällig: Er kannte das Missionsmilieu aus dem Elternhaus in Calw. Abgestoßen davon, hatte er schon vor dem 1. Weltkrieg in den großen ethischen und philosophischen Überlieferungen Asiens alternative geistige Nahrung gesucht, hatte hinduistische und buddhistische Klassiker in Übersetzungen der gerade in Deutschland des späten 19. Jahrhunderts aufgeblühten Indologie und Buddhologie gelesen und Grundelemente davon übernommen. Eine Befreiung, deren Keime in seinem Elternhause selber angelegt waren. Beide Eltern waren als Missionare in Indien gewesen. Objekte indischer Kultur und Religion sind im Elternhaus präsent: Statuen, Kleider, Bilder, Bücher. Paradox genug: Ausgerechnet in einem kleinen Schwarzwaldstädtchen wie Calw an der Nagold tritt Hesse in einer geschlossenen Welt pietistischer Frömmigkeit die große Welt anderer Religionen und Kulturen entgegen und erweitert das Lokale und Christliche ins Globale und Weltreligiöse.

Eine Asienreise Hesses 1911 liefert Anschauung und bestärkt ihn, je länger, desto entschiedener sich von einem eurozentrischen und konfessionalistischen Lagerdenken zu verabschieden, beschrieben in seinem Buch „Aus Indien“. Schon 1980 wird Volker Michels durch einen bahnbrechenden Materialienband zum Thema „Aus Indien“ Hintergrundinformationen dazu liefern, die bis heute für jede Forschung unverzichtbar sind. Er kontextualisiert Hesses Buch mit „Aufzeichnungen, Tagebüchern, Gedichten, Betrachtungen und Erzählungen“.

Während die etablierten Kirchen an ihrem Anspruch auf eine normierte, exklusive Wahrheit festhalten, vollzieht sich bei Hesse schon früh ein Prozess der eigenen Sinnsuche. Das heißt, einer Suche nach religiösen Ausdrucksformen, die nicht länger vorgegebenen Normen, sondern dem eigenen Selbst entsprechen. Der von Hesse so vehement gegen alle Zwänge des Herkunftsmilieus verteidigte „Eigensinn“, mit dem er sich schon als Schriftsteller behaupten musste, wirkt sich auch in lebenslangen eigenen Suchprozessen im Bereich des Religiösen aus. Er habe zeitlebens die Religion gesucht, die ihm zukäme, kann er schreiben. Obwohl er in einem „Hause von echter Frömmigkeit aufgewachsen“ sei, habe er doch den Gott und den Glauben, der ihm dort angeboten worden sei, „nicht annehmen“ können. Bei Hesse also kommt ein Prozess moderner Ausdifferenzierung zum Durchbruch, der sich als Individualisierung und Subjektivierung des Religiösen beschreiben lässt, damals ein Einzel-, heute ein Massenphänomen vor allem in urbanen Bildungsmilieus. Religionssoziologische und religionspschologische Untersuchungen heute belegen das empirisch breit. Nicht zuletzt um dieser schonungslosen eigenen Sinn-Suche willen greifen ungezählte Leser/Innen zu seinen Büchern und wollen von ihm lernen.

Ungezählte sind so erstmals über Hesses Dichtung „Siddhartha“, exakt vor 100 Jahren erschienen, mit asiatischen Überlieferungen in Berührung gekommen: mit der Geisteswelt indischen Ursprungs: Hinduismus und Buddhismus und der chinesischen Ursprungs: Konfuzianismus und Taoismus. Sie werden herausgefordert zu umfassendem Studium und disziplinierter Kontemplation. Unter diesem Niveau ist Hesse denn auch nicht zu haben. Das Ethos, das Hesse zu leben und über Literatur zu vermitteln versucht, umschreibt er im Oktober 1946 in einem Brief an Thomas Mann – unter dem Eindruck eines menschheitszerrüttenden Weltkriegs: „Das Europa, das ich meine, wird nicht ein ›Erinnerungsschrein‹ sein, sondern eine Idee, ein Symbol, ein geistiges Kraftzentrum, so wie für mich die Ideen China, Indien, Buddha, Kung Fu nicht hübsche Erinnerungen, sondern das denkbar Realste, Konzentrierteste, Substantiellste sind, was es gibt.“

Aus Hesses Werk also tritt uns die Gestalt eines Zukunftseuropäers entgegen, der in den eigenen Traditionen tief verwurzelt ist, sich zugleich aber durch die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, erweitern, bereichern und vertiefen lässt. Es fordert heraus zu einem Dialog der Kulturen und Religionen ohne gegenseitige Bekehrungsansprüche und Abstoßungsversuche. Volker Michels hat auch zu diesem Thema durch Texteditionen und Kommentierungen die Basis geschaffen, um Hesse im Vollzug eines solchen Dialoges überhaupt wahrnehmen zu können. Ich denke an seinen Textband „Blicke nach dem Fernen Osten“ (2002) und die Teilbände „Sehnsucht nach Indien“ (2006) sowie „China. Weisheit des Ostens“ (2009). Sie bilden die Voraussetzung für eine Hesse Forschung zum Komplex Interkulturalität, von denen u.a. auch ich in meinen Publikationen profitiert habe.

Gerade das sperrige, weil geistig anspruchsvolle Spätwerk Hesses zwingt seine Leser/Innen in eine strenge Geistes-Schule, verpflichtet sie auf ein lebenslanges nationen-, kulturen-, religionenübergreifendes Lernen, Verknüpfen und Kommunizieren. Das hat mit Elitismus nichts, mit Selbstanspruch als kulturelle Kompetenz viel zu tun. Um das in seiner ganzen Tiefe wahrzunehmen, bedarf es auch der Lektüre des letzten großen Romans: „Das Glasperlenspiel“. Ihn dürften viele „Siddhartha“-Leser noch vor sich haben, die „ihren Hesse“ als mystischen Aussteiger lieben, aber auch in ihrer Liebe einkapseln. Auch manche „Steppenwolf“-Leser, die ihn auf Radikalkritik am Bürgerlichen reduzieren und gern mit dieser Rolle kokettieren.

Das „Glasperlenspiel“ aber scheint nach wie vor wie ein Meterorit in der Literaturlandschaft zu liegen. Bewundert von vielen, und zugleich liegen gelassen. Lektüre mühsam. Es ist denn auch ein besonders anspruchsvolles Werk des Altgewordenen, im Zentrum der – der faschistisch-völkischen Verrohung des Geistes entgegen gestellte – Gedanke, dass in der Zukunft des 3. Jahrtausends, in einer Provinz namens Kastalien, eine Art Orden geistig durchgebildeter Menschen überlebt hat, die alles das, was die „Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihrem schöpferischen Zeitalter hervorgebracht“, geistig zu erfassen und strukturell zu vereinheitlichen verstehen. Verpflichtet einem Erbe, das bis zu Pythagoras und den alten Chinesen reicht, und das muslimisch-maurische Geisteslebens ebenso aufgenommen hat wie das der Scholastik und des Humanismus. Ein literarischer Welt-Entwurf, der auf die Ausbildung einer „Universalsprache“ zielt, einer „Weltsprache, die aus allen Wissenschaften und Künsten gespeist“ ist und so ein „Sichannähern an den über allen Bildern und Vielheiten in sich einigen Geist“ ermöglicht. Volker Michels weiß, wovon ich rede, denn er hat wie kein anderer zu Erschließung auch dieses letzten großen Werkes beigetragen. Man studiere seine beiden reich dokumentierten Materialienbände zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „Glasperlenspiels“ schon aus den siebziger Jahren (1973/74. 1977), dazu Schlüsselessays in seinem Sammelband: „Weg zu Hermann Hesse“ (2021), insbesondere den Beitrag über „Hermann Hesse im Widerstand gegen den Zeitgeist“. Publikationen, die ihrerseits ungezählte Forschungsimpulse freigesetzt haben.

Aus heutiger Sicht liest sich das „Glasperlenspiel“ denn auch als der literarisch ebenso sperrige wie theologisch verwegene Versuch eines Widerrufs von Genesis 11, einer Zurücknahme der babylonischen Sprachverwirrung der Menschheit. Der Roman ist nichts weniger als ein weltliterarisches und kosmopolitisches Unternehmen nach Babylon, verpflichtet der Idee der Vernetzung allen Wissens, kein esoterisch-verspielter Elitismus, wohl aber ein Monument des Geistes als Gegenkraft gegen die nationalistische Verrohung und technizistische Verzweckung des Geistes, in seiner zu langsamen Kontemplationen zwingenden Sperrigkeit zugleich Widerstand gegen einen Zeitgeist der Beschleunigung um jeden Preis, der tempovergötzenden Raum- und Zeitverdünnung, der rasanten Verfügbarkeit und Verbrauchbarkeit aller Güter. Der Lesewiderstand des „Glasperlenspiels“ dient dem Prozess heilsamer Verlangsamung im Interesse geistiger Durchdringung der Komplexität der Welt.

Woraus folgt, dass gerade der späte Hesse ein Weltbürgertum ganz eigener Art verkörpert und konzeptionell entwirft, das gerade im Zeitalter der Globalisierung mehr denn je der Einlösung harrt. Und ich frage denn auch: Welche Zeit, wenn nicht die unsrige, hat die technologischen Voraussetzungen so verfeinert und massenhaft verbreitet, damit global-vernetztes Bewusstsein entstehen könnte? Welche Zeit hätte die Kommunikation aller mit allen so bis in den letzten Winkel der Welt getragen wie die unsrige, die das world-wide-web erfunden hat? Doch zu unserer tagtäglichen Erfahrung gehört auch und wir erleben es gegenwärtig schmerzlicher als zuvor: Globalisierung von Weltökonomie und Kommunikations-Technologie heißt gerade nicht wie von selbst auch Öffnung für Weltkulturen und Weltreligionen. Erwartungen, im Zuge der Vernetzung der Märkte und Kommunikationsmittel käme es gewissermaßen von selbst auch zu einer allgemeinen Globalisierung des Bewusstseins, ja zu mehr Verständnis für den anderen, den „Fremden“, oder sogar zu mehr planetarischer Solidarität, kommen bisher über Anfänge nicht hinaus oder werden gezielt durch neue Machtspiele zertreten.

Wer sich aber auf Hesses Werk einlässt, begreift, dass die Rede von der Einheit der Menschheit nur dann keine wohlfeile Phrase ist, wenn sie sich doppelt legitimiert: durch die Erfahrung der Zerrissenheit in der Seele der Menschen und in den Kulturen der Welt; Glaubwürdigkeit durch Schmerzerfahrungen bei Selbstverstümmelungen, bei Abspaltung des Fremden, bei Abstoßung des Nicht-Eigenen. Und zweitens: durch Gewinnung von interkultureller Sprachkompetenz. Und hier – beim Thema Einheit der Menschheit – gibt es die größte Anschlussfähigkeit heute zwischen Hesses Werk und den verschiedenen Diskursen, die heute geführt werden: um globale Zivilgesellschaft, Durchsetzung des Völkerrechts und der Menschenrechte, Religionsdialog und Menschheitsethos. Wer sich auf Hesses Werk einlässt, wird jeder gespaltenen Globalisierung wehren, die in vielen Köpfen verbreitet ist: ökonomische Vorteile mitnehmend und die geistige Auseinandersetzung mit den Weltkulturen scheuend, jenes halbierte Weltbürgertum, das gerne die Wirtschaft und den Tourismus globalisiert, aber weniger gern das eigene Bewusstsein, das mit Wollust die Kapital- und Flugbewegungen weltweit vernetzt, nur nicht die eigenen Lernprozesse.

Der internationale Kultur- und Religionsdialog aber ist mittlerweile auch als Aufgabe von weltpolitischer, weltethischer, weltkultureller Bedeutung erkannt. Hesse selber schrieb 1955 auf Vermittlung seines japanischen Übersetzers, Professor Takahashi, an seine „Leser in Japan“: „Die ernsthafte und fruchtbare Verständigung zwischen Ost und West ist nicht nur auf politischem und sozialem Gebiet die große, noch unerfüllte Forderung unserer Zeit, sie ist eine Forderung und Lebensfrage auch auf dem Gebiet des Geistes und der Lebenskultur. Es geht heute nicht mehr darum, Japaner zum Christentum, Europäer zum Buddhismus oder Taoismus zu bekehren. Wir sollen und wollen nicht bekehren und bekehrt werden, sondern und öffnen und weiten; wir erkennen östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich bekämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares Leben schwingt.“

III. Es ist die Lebensleistung von Volker Michels, das Werk von Hermann Hesse verfügbar gemacht, erschlossen und immer wieder neu aktualisiert zu haben. Während andere Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts in die Bibliotheken und Antiquariate abtauchen mussten, ist Hesses Werk in verschiedenen Ausgaben präsent und lieferbar geblieben, auch 60 Jahre nach seinem Tod – dank der unermüdlichen Arbeit dieses Mannes. Und Tübingen? Unsere Stadt ist bekanntlich dem Werk von Hermann Hesse besonders verbunden, hat der Dichter doch hier in den Jahren 1895-1899 seinen Durchbruch als Schriftsteller erlebt, woran nicht nur eine Tafel am seinem Wohnort in der Herrenbergerstraße 28 erinnert (das „Hesse Haus“: heute Musikschule), sondern längst auch ein „Hesse Kabinett“ in den ehemaligen Räumen der Buchhandlung Heckenhauer am Holzmarkt gegenüber der Stiftskirche, wo der junge Hesse Buchhandel gelernt hat. Der Universität in Tübingen steht auch deshalb eine Ehrenpromotion in Sachen Hesse gut zu Gesicht.

Für seine Verdienste für dieses Werk und damit für die deutschsprachige Literatur und Literaturwissenschaft über 50 Jahre verleiht die Fakultät Volker Michels dieses Ehrendoktorat. Auch ich gratuliere: der Fakultät und dem Geehrten.

Zitat der Woche

„Oft ist die Welt schlecht gescholten worden, weil der, der sie schalt, schlecht geschlafen oder zu viel gegessen hatte.“

Aus Hermann Hesses Essay „Zarathustras Wiederkehr“, 1919