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Hesse-Stipendiatin Rosemarie Tietze beleuchtete Kunst des Übersetzens

Meldung vom 04.04.2012

Schon als Jugendliche habe sie Interesse an Russisch gehabt, als Gegenpol zur vorgegebenen Englisch- und Französisch-Orientierung der Nachkriegszeit. Heute gehört Rosemarie Tietze zu den renommiertesten Übersetzerinnen in Deutschland, vielfach ausgezeichnet und aktuell Stipendiatin der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung, getragen von Sparkasse und SüdwestRundfunk. Die Lesung im Hesse-Museum begeisterte ein fachkundiges Publikum und lieferte spannende Einblicke in die hohe Kunst der literarischen Übersetzung. Die sympathisch und humorvoll auftretende Stipendiatin stellte ihre jüngste Arbeit in den Mittelpunkt der Lesung, eine gefeierte Übertragung von Leo Tolstois „Anna Karenina“. Wie die „Wörterjagd“ in regelrechte Detektivarbeit ausarten kann, zusätzlich erschwert durch die historische Ferne, konnte die gebürtige Oberkircherin wunderbar aufzeigen. „Wie war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Pferderennen; das hat eine eigene Terminologie“, machte die Slawistin und Germanistin deutlich. Und Tolstoi sei als Pferdenarr in Fachbegriffen sehr genau gewesen. „Ich muss das, was ich beschreibe, verstanden haben, muss es vor mir sehen“, erklärte Rosemarie Tietze ihre oft aufwendigen Recherchen.„Mit Argumenten Fontanes im Rücken“ habe sie nach der Lektüre eines Briefwechsels des Dichters mit seiner Schwester Emilie den Ausweg aus einem Dilemma gefunden. „Denn ich hatte einen inneren Widerwillen, eine Mahlzeitt um 17 Uhr als „Mittagessen“ zu übersetzten“, bekannte die Stipendiatin. „Dinieren“ fand sie schließlich als Lösung.Auch kaum noch gebräuchliche Begriffe aus dem bäuerlichen Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweisen sich häufig als kaum noch stimmig übersetzbar. So erfuhr Rosemarie Tietze bei einem Aufenthalt im Allgäu, dass die erste Freiweide nach dem Winter dort „Stangenhaag“ genannt wird und nahm die Bezeichnung begeistert in ihre Übersetzung auf. „Ich habe keine Scheu, auch mal das Süddeutsche anklingen zu lassen“, sagte die studierte Theaterwissenschaftlerin. Schließlich sei das Süddeutsche „kein Dialekt, sondern eine Variante des Deutschen.“ Und wo Andere „sättingend“ übersetzten, erschien ihr „habhaft“ passender – eine „Schmuggelware“ aus dem Umgangssprachlichen. Überhaupt gelte für den Übersetzer, sich „Wörter nicht nur zu erschließen, sondern auch auf den richtigen Platz zu bringen.“„Warum tut man sich so was an, zweieinhalb Jahre Arbeit für eine Neuübersetzung?“ Diese häufig gestellte Frage nach dem Sinn der 21. Übertragung von Anna Karenina ins Deutsche beantwortete Rosemarie Tietze nicht etwa mit der veränderten Sprache seit der letzten Übersetzung vor 50 Jahren. Vielmehr war die 1970 erschienene textkritische Ausgabe mit zirka 900 Veränderungen nie berücksichtigt worden. Wenn auch zwei Drittel der Veränderungen laut Rosemarie Tietze völlig unerheblich ist, betrifft der Rest jedoch „tatsächlich Wörter.“ Und ein Satz wie der von Graf Wronskij über eine zurückliegende Affäre – „er konnte jetzt nicht bereuen, was er vor sechs Jahren schon bereut hatte“, fehlte in der alten Ausgabe völlig.Als Hauptgrund der Neuschöpfung nannte Frau Tietze jedoch, dass eine Übersetzung stets ganz bestimmten Strategien folge und sichgenauso von einer anderen unterscheide wie in der Musik die Interpretationen bedeutender Kompositionen. Früher sei bei Prosa der ganze Absatz nacherzählt worden, ohne darauf zu achten, wie der Text gestaltet war. „Tolstoi arbeitet mit unheimlich vielen Wiederholungen; und ich bin tatsächlich die Erste, die das nachmacht“, erläuterte die Hesse-Stipendiatin. So schaffe Tolstoi „eine Art von Trichter, in den man so richtig reingezogen wird.“ Und „durch diese merkwürdige Textstruktur wird der Käfig, in dem Anna Karenina sitzt, plötzlich deutlich.“ In der Diskussionsrunde offenbarte sich eine weitere Gemeinsamkeit von Literarischen Übersetzern und Klassischen Musikern. „Die ganzen Bücher sind subventioniert von mir. Ich habe immer einen Brotberuf gebraucht“, machte Rosemarie Tietze deutlich. Deshalb war sie auch Initiatorin und bis 2009 Vorsitzende des Deutschen Übersetzerfonds, der heute fast 300 000 Euro pro Jahr für Stipendien auslobt. Und am Ende der gutbesuchten Veranstaltung – von Herbert Schnierle-Lutz gewohnt souverän moderiert - gab es doch noch ein Beispiel, dass auch die Veränderung unserer Muttersprache ungewöhnliche Folgen für die Literatur haben kann. Grimmelshausens Barockroman „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ wird zurzeit „vom Deutschen ins Deutsche“ übersetzt. 
Text und Foto: Andreas Laicheingestellt von: Pressebüro etc etera 

Zitat der Woche

„Jeder strahlt sein Schicksal selber aus. Weisheit ist: es als Bild seiner selbst erkennen und nicht eine rohe ‚äußere’ Macht darin sehen.“

Aus einem Brief Hermann Hesses 1919