Kennen Sie Gerbersau?
Meldung vom 08.07.2025


Der Publizist und Autor Mathias Iven (u. a. "Hesse in Montagnola", Berlin 2007, 2017) hat anlässlich des 21. "Gerbersauer Lesesommers" sowie des vor kurzem erschienenen Erzählbandes "Hermann Hesse: Meine kleine Stadt", der 15 "Gerbersauer" bzw. Calwer Geschichten" enthält, eine Besprechung geschrieben, die wir hier mit seiner Zustimmung abdrucken:
Kennen Sie Gerbersau?
Von Mathias Iven
Wenn Sie jetzt, ganz klassisch, zum Atlas greifen sollten, werden Sie diesen Ort vergeblich suchen. So poetisch der Name auch klingt – er ist nur ausgedacht, steht jedoch für einen realen Ort. Es handelt sich in diesem Fall um das im Nordschwarzwald gelegene Städtchen Calw, die Geburts- und Heimatstadt von Hermann Hesse. In Erinnerung an die Gerber, die in früheren Zeiten an den Ufern des Flüsschens Nagold ihrem Handwerk nachgingen, wählte er als Synonym den Namen „Gerbersau“ – die Aue der Gerber.
Der Calwer Erfahrungsfundus blieb für Hesse zeitlebens eine Quelle seines Schreibens. Bereits im Februar 1901 hieß es in der Erzählung „Erlebnis in der Knabenzeit“: „In Jahrzehnten habe ich Tal und Stadt nur wenige mal für wenige Stunden wiedergesehen, aber nie mehr ist eine andere Stadt in den Ländern, in denen ich seither gewohnt habe und gereist bin, mir so bekannt geworden; noch immer ist die Vaterstadt für mich Vorbild, Urbild der Stadt, und die Gassen, Häuser, Menschen und Geschichten dort Vorbild und Urbild aller Menschenheimaten und Menschengeschicke.“
In diesem Jahr blickt Calw nicht nur auf seine 950-jährige Geschichte zurück. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum findet auch – und das bereits zum 21. Mal – der „Gerbersauer Lesesommer“ statt. Zwischen dem 4. Juli und dem 8. August gibt es sechs musikalisch umrahmte Lesungen, die das Calwer Leben gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Thema haben, wie es Hesse in seinen „Gerbersauer Erzählungen“ geschildert hat.
Was wird nun in diesem Jahr gelesen? Da haben wir zum Beispiel zum Auftakt die Erzählung „Der Lateinschüler“. Sie handelt von der unglücklichen Liebesgeschichte des sechzehnjährigen Schülers Karl Bauer, der von der Dienstmagd Babett in den kleinstädtischen Kosmos von Gerbersau eingeführt wird. Der Künstler und Außenseiter Hermann Lautenschlager steht im Mittelpunkt von „In einer kleinen Stadt“. Mit scharfem Blick beobachtet er das Leben und Treiben der Großkopfeten, weshalb er nicht bei allen beliebt ist. Mit viel Calwer Lokalkolorit kommt „Die Verlobung“ daher. Hesse schildert darin das tragisch-komische Schicksal des schweigsamen, etwas kleinwüchsigen und schüchternen Kaufmanns Andreas Ohngelt, der zwar beruflich recht erfolgreich ist, aber partout keine Frau findet.
Gerade rechtzeitig zum bevorstehenden „Gerbersauer Lesesommer“ ist ein von Herbert Schnierle-Lutz, seit langen Jahren verantwortlich für die inhaltliche Gestaltung des „Gerbersauer Lesesommers“, herausgegebener Band mit den 15 schönsten „Gerbersauer Erzählungen“ erschienen. Neben den bereits oben genannten Texten findet sich darin unter anderem die Ich-Erzählung „Der Kavalier auf dem Eise“ sowie die Geschichte „Der Hausierer“, in der es um einen krummen alten Habenichts mit dem mythischen Namen Hotte Hotte Putzpulver geht. Auch Samuel, genannt Sammetwedel, kann man kennenlernen. Als Besitzer eines stattlichen Kramladens und Zielscheibe unaufhörlicher Neckereien ist er die Hauptperson in „Ein Knabenstreich“.
Die ersten „Gerbersauer Erzählungen“ schrieb Hesse 1901 während eines Ferienaufenthaltes in seinem Elternhaus in Calw. Später, in der Gaienhofener Zeit (1904–1912), kamen rund zwei Dutzend kürzere und längere Geschichten hinzu. Ein besonderes Anliegen war es Hermann Hesse“, so Schnierle-Lutz in seinem Nachwort, „die Außenseiter von Gerbersau zu porträtieren, zumal er sich selbst stets als solchen empfunden hat.“ Einer dieser Individualisten, dessen Geschichte stark an das von Hesse selbst Erlebte erinnert, ist Karl Eugen Eiselein. In der gleichnamigen, 1903 entstandenen Erzählung verteidigt dieser seine literarischen Ambitionen dem Vater gegenüber mit den Worten: Er „wisse schon längst, daß er zum Dichter und nur zum Dichter geboren sei“. Anders als Hesse kann er sich allerdings nicht durchsetzen und tritt am Ende doch als Nachfolger in das Kolonialwarengeschäft seines Vaters ein. Fazit: Unbedingt wieder einmal lesen! Und vielleicht Calw einmal einen Besuch abstatten.
Hermann Hesse: Meine kleine Stadt. Geschichten aus Calw, hrsg. und mit einem Nachwort von Herbert Schnierle-Lutz, Insel Verlag, Berlin 2025, 384 Seiten, 15,00 Euro. Information zum „Gerbersauer Lesesommer“ finden sich auf der Website der Stadt Calw. (LINK: https://www.calw.de/kultur/veranstaltungen/gerbersauer-lesesommer)