„Meine ersten zehn Tage haben sich gut angelassen, ich habe eine Arbeitsroutine und bin viel auf den Forstwegen rund um die Stadt unterwegs.“ Mit Norbert Gstrein ist der 65-ste Gast der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung Bewohner der Dichterklause im Hause Schaber.
Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete gebürtige Tiroler und Wahl-Hamburger arbeitet in der Hesse-Stadt bereits an seinem nächsten Roman. Titel und Handlungsidee des neuen Werks werden natürlich noch nicht verraten. Die Erwartungshaltung der Leserschaft dürfte nach dem Erfolg von „Die kommenden Jahre“, „Als ich jung war“ und vor allem „Der zweite Jakob“ indes groß sein.
Kultur-Amtsleiterin Isabel Götz, Dr. Andreas Narr und Elke Ruff, Vorsitzender und Geschäftsführerin der Hesse-Stiftung, hießen den Autor in Calw willkommen. Und der studierte Mathematiker machte im lockeren Kennenlern-Gespräch nicht viel Aufhebens um seine Person. Gefragt, ob denn Mathematik nicht eine ungewöhnliche Vorbereitung auf den Schriftsteller-Beruf sei, antwortet Norbert Gstrein lakonisch: „Mathematik hilft, Probleme zu meistern.“
Probleme, von denen seine Romanfiguren stets mit eleganten Anspielungen auf die eigene Biografie nicht wenige zu lösen haben. So stammt die Hauptfigur in „Der zweite Jakob“, ein in den USA erfolgreicher Schauspieler, zu dessen Sechzigstem eine Biografie erscheinen soll, ebenfalls aus Tirol. Freilich entpuppt sich Biograph Pflegerl in den ersten Gesprächen als wenig einfühlsamer Unsympath. Und der zu Portraintierende bricht das Unterfangen nach wenigen Sitzungen ab. Unter anderem mit der Begründung, er wolle allzu Privates über sich nicht in einem Buch lesen.
Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel: Es gibt im Leben des Hauptakteurs einen dunklen Punkt, der auch das Verhältnis zur Tochter zu beschädigen droht. Wie Norbert Gstrein diese komplexe Vater-Tochter-Erzählung zu Papier bringt, ist schlicht meisterhaft, elegant, ja zu Herzen gehend.
Aber weil der Berichterstatter dem Hesse-Stipendiaten keinesfalls als einer wie „Elmar Pflegerl“ in Erinnerung bleiben will, seien hier nur unzweifelhafte biografische Daten erwähnt. Dass Gstreins Bruder Bernhard ein ehemaliger Skirennläufer ist und die Verbindungen des erfolgreichen Schriftstellers in die Tiroler Heimat nie ganz abgerissen sind. Obwohl er sich immer wieder kritisch mit seiner Herkunfts-Region auseinandergesetzt hat. Nicht unähnlich dem berühmten Namensgeber seines Stipendiats.
Seit seinem Debütroman „Einer“ im Jahr seiner Dissertation 1988 wendet sich Norbert Gstrein immer wieder neuen Erzähl-Genres zu. Scheut auch vor aufwühlenden Themen wie dem Kosovo-Krieg oder religiösem Fanatismus nicht zurück. Und beweist dabei stets seine literarische Meisterschaft, die ihn 2021 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises brachte.
Andreas Laich