Die 52. Stipendiatin der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung Olga Martynova bewohnte von Mitte Mai bis August 2015 die „Dichterklause“ im Hesse-Geburtshaus am Calwer Marktplatz. Bei ihrer Begrüßung charakterisierte Laudatorin Christa Linsenmaier-Wolf die in Sibirien geborene und jüngst auch mit dem Berliner Literaturpreis geadele Wahl-Frankfurterin als „femme de lettres, gelehrt, geistreich, elegant, hellwach und traumverloren.“
„Ich hoffe, Sie können diese kleine Auszeit in Calw unter freundlichen Menschen genießen“, hatte Stiftungsvorsitzender Dr. Andreas Narr die Stipendiatin und ihren Ehemann in der Calwer Sparkassen-Kundenhalle begrüßt. Das Stipendium für die „mit sachkundiger Hand und feinem Gespür“ ausgewählten Preisträger sei gedacht „als Anerkennung und Verschnaufpause für kreative Menschen, die einem vielleicht nicht zuerst in den Sinn kommen“, führte Dr. Narr aus. Gleichwohl waren unter diesen „hidden champions“ viele Größen wie Volker Braun, Walter Kappacher und Ursula Krechel. Und der Stiftungsvorsitzende merkte noch an, man lege Wert „auf eine kleine literarische Spur“ des Aufenthalts in Calw. Im Namen der Stadt hieß Hesse-Museumsleiter Timo Heiler die Stipendiatin willkommen und überreichte einen Geschenkkorb.
Christa Linsenmaier-Wolf, Leiterin des Kulturamts der Stadt Fellbach, brachte die Stipendiatin in einer meisterhaften Laudatio dem fachkundigen Publikum in Calw näher. Und bekannte gleich eingangs, welche Herausforderung diese „kleine Werkeinführung“ für sie dargestellt habe. Sei der 2013 erschienene Roman „Mörikes Schlüsselbein“ doch „so gescheit entworfen, so poetisch geschrieben, so klug gedacht und so klug gemacht“, dass man sich beim Lesen auf eine Entdeckungsreise durch vertraute Gegenden und fremde Gefilde begebe. Auch wenn die Frage nach der Echtheit von Mörikes Schlüsselbein in der Vitrine des Tübinger Stifts gegen Ende des Buches ein wenig ernüchternd beantwortet werde.
„Wenn man den Roman in eine Schublade stecken will, klemmt sie“, stellte Christina Linsenmaier-Wolf fest, „denn es handelt sich um ein Werk, das viele Gattungen zitiert und erfüllt.“ Vor allem jedoch sei „Mörikes Schlüsselbein“ ein „Sprachkunstwerk; ein Kosmos aus Sprache.“ Alle von ihr erfundenen Romanfiguren befassen sich darin mit Sprache und Sprachen. Dass die Schöpferin auch eine Lyrikerin ist, lasse sich unschwer daran erkennen, „dass sie mit sicherem Gespür ungewohnte Perspektiven und Sprachbilder von hoher poetischer Kraft entfaltet“, analysierte die Laudatorin. Zitat: „Der Regen, fast kein Regen mehr, sondern ein Sprudelnebel, in das Riesenglas Amerika eingeschenkt.“
Olga Martynova schreibt Gedichte auf Russisch, Essays, Rezensionen und Prosa auf Deutsch, unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit. Viele ihrer Artikel wurden in andere europäische Sprachen übersetzt. Im Jahr 2000 wurde sie mit dem Hubert-Burda-Preis für junge Lyrik ausgezeichnet, ihr Debütroman „Sogar Papageien überleben uns“ stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2010, außerdem auf der Shortlist zum aspekte-Preis 2010 und auf Platz 3 der SWR Bestenliste. 2012 wurde sie für das Kapitel „Ich werde sagen „Hi“ aus „Mörikes Schlüsselbein“ mit dem Ingeborg-Bach-Preis ausgezeichnet, 2015 mit dem Berliner Literaturpreis geehrt. Frau Linsenmaier-Wolf wünschte Olga Martynova, sie möge während ihres Calw-Aufenthaltes etwas Ähnliches wie „Mörikes Schlüsselbein“ finden, es müsse ja nicht gleich Hesses Zwischenkieferbein sein.
Wie sehr bei der Hesse-Stipendiatin „Form und Gehalt eine unauflösliche Einheit“ bilden, wurde bei der abschließenden längeren Lesung deutlich.
Andreas Laich