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Rosemarie Tietze

Rosemarie Tietze
SPK

„Was machen Sie, wenn ein Stipendiat sagt, ich bleibe hier.“ So bekannte die bereits 43-ste Hesse-Stipendiatin ihre Zuneigung zu Calw. Die in München lebende geborene Oberkirchenerin ist studierte Theaterwissenschaftlerin, Slawistin und Germanistin. Sie kam 1944 „auf der Abendseite des Schwarzwalds“ zur Welt.

Seit 1972 übersetzt sie freiberuflich vor allem aus dem Russischen, seit 1984 unterrichtet sie im Sprachen- und Dolmetscher-Institut München. Von 1995 bis 1997 gehörte sie selbst der ersten Findungskommission für das Hesse-Stipendium an und leitete danach den von ihr initiierten Deutschen Übersetzerfonds. 2009 hat Rosemarie Tietze eine vielbeachtete Übersetzung von Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“ vorgelegt. Sie hat zahlreiche Preise erhalten, unter anderen 1990 den Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart – heute Johann-Friedrich-von-Cotta-Preis genannt –, 1995 den hoch geachteten Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 2008 gemeinsam mit Andrei Georgijewitsch Bitow den Literatur- und Übersetzungspreis „Brücke Berlin“, 2010 den Paul-Celan-Preis.

Sparkassenchef Dr. Herbert Müller outete sich in seiner Begrüßung als Fan der nach Hesse benannten Rockband „Steppenwolf“ und betonte, die Verbindung zwischen Calw und Hesse müsse „hochgehalten“ werden. Müller verwies auch auf Udo Lindenbergs Panikpreis, der Anfang Juli wieder auf dem Marktplatz verliehen wird. Aus Liebe zu Hesse hatte der Rockstar seine Stiftung in Calw gegründet.

Der neue Oberbürgermeister Ralf Eggert meinte, „für mich sind Sie die erste Stipendiatin.“ Er wünschte Rosemarie Tietze, „dass Sie die Zeit kreativ nützen können und Calw Spuren in Ihrem Werk hinterlässt.“ Und das Stadtoberhaupt verwies natürlich auf 50 Aktionen und Veranstaltungen, mit denen Calw ab Mai Hesses 50-sten Todestages gedenkt. Die Stadt sei der Hesse-Stiftung dankbar für die Pflege der literarischen Kultur in Calw.

Stiftungs-Vorsitzender Dr. Andreas Narr bezeugte der neuen Stipendiatin seinen Respekt vor ihrem Mut, hatte Sie doch im Kalten Krieg in Moskau „die Welt des Theaters“ studiert. Er zitierte aus einem Interview, in dem Rosemarie Tietze Russisch „als unglaublich für die Dichtung geeignete Sprache“ charakterisierte, in der man sehr viel mit einem Wort ausdrücken könne. „Atmen Sie im Hesse-Jahr die frische Schwarzwaldluft und hinterlassen Sie uns bitte eine literarische Spur“, wünschte sich der Stiftungschef.

Egbert-Hans Müller, Vorsitzender der Findungskommission der Hesse-Stiftung, führte – einmal mehr meisterhaft – in das Thema literarische Übersetzungen ein. „Übersetzen – was ist das? Worte einer Sprache wiedergeben in denen einer anderen? Worte allein?“, leitete Müller seinen Vortrag ein. „Übersetzer stehen in ihrer Leistung für die Literatur anderen Schriftstellern in nichts nach“, resümierte der Ministerialrat a.D. nach einem ausführlichen Exkurs. Wo sie keine Entsprechung in ihrer Sprache fänden seien Übersetzer „Wortschöpfer, Erfinder von Wörtern, die nachher Alltagssprache werden können.“ Rosemarie Tietze verglich ihre Arbeit in einem FAZ-Interview mit der eines Schauspielers: „Ich interpretiere das Werk eines Anderen, spiele es nach in meiner Sprache.“

In einer kurzen Lesung stellte sich die gutgelaunte Stipendiatin dem aufmerksamen und fachkundigen Publikum, darunter auch Hesse Großcousine Marlies Bodamer, in der Calwer Sparkasse vor. Rosemarie Tietze trug aus einer Übersetzung von Andrei Georgijewitsch Bitow vor – „mein wichtigster Gegenwartsautor“. In „Armenische Lektionen“ schildert der 1937 in Leningrad geborene Autor seine Eindrücke aus der Region im Süden Russlands. „Das Fremde lässt sich nicht begreifen, ohne dass man gleichzeitig das Eigene mitdenkt“, formuliert Bitow eine Grunderfahrung. Und er beobachtet, wie seine Gastgeber sich unbewusst verhalten. „Wenn Sie etwas lustig finden, falle ich ihnen wieder ein, wenn sie ausgelacht haben.“ Und an einer Stelle bedauert sein Gesprächspartner: „Ach wie schade, dass Sie sein Armenisch nicht verstehen.“ Als rede jeder in einer anderen Färbung seiner Muttersprache. „Ich verliebe mich in die Wörter, in die armenischen durch die russischen, in die russischen durch die armenischen“, beschreibt Bitow seinen Zugang zur anderen Kultur.

Andreas Laich

Zitat der Woche

„Etwas lieben können – welche Erlösung!“

Aus Hesses Erzählung „Klein und Wagner“, 1919