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Hesses Stimme

Hermann Hesse, Foto: Martin Hesse
Martin Hesse Erben

“Was unseren Sprachen in den letzten zwei Jahrhunderten an neuen Vokabeln zugewachsen ist, ist an Zahl ungeheuer und staunenswert, aber an Gewicht und Ausdruckskraft, an sprachlicher Substanz, an Schönheit und echtem Gold ist es jämmerlich arm. Es ist zum größten Teil Inflationsgut.”

Hesse spricht über Sprache. In einem kurzem Ausschnitt aus seinem Essay “Über das Wort Brot” ist seine Stimme zu hören.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages Berlin.

Über das Wort Brot

Stimme von Hermann Hesse
Wir Dichter sind von der Sprache abhängig. Sie ist unser Werkzeug, ein sehr kompliziertes Werkzeug, dessen Beherrschung keinem einzelnen je ganz gelingt.
Wenigstens kann ich von mir sagen, daß ich seit meinem Eintritt in die Schule vor siebzig Jahren nichts anderes so zäh und fortdauernd betrieben habe, wie die Bemühung um die Kenntnis und Beherrschung der Sprache; und daß ich mir darin immer noch wie ein staunender Anfänger vorkomme, der sich bezaubert und halb ängstlich, halb beglückt in die Irrgärten des Alphabets einführen läßt, wo man aus einem kleinen Häufchen Buchstaben Wörter, Sätze, Bücher und grafische Abbilder des ganzen Weltalls zusammensetzen kann.
Grundstock und erste Elemente der Sprache sind nun die Wörter. Im Umgang mit ihnen entdecken wir, daß ein Wort, je älter es ist, desto mehr Lebensstärke und Beschwörungskraft enthält. Unsere Sprachen sind alle alt, aber ihr Wortschatz ist in immerwährendem Wechsel beglückend. Wörter können erkranken, sterben und für immer verschwinden Und neue Wörter können jeden Tag, in jeder Sprache zum alten Bestand hinzukommen. Doch ist es mit diesem Wachstum so beschaffen wie mit jedem Fortschritt. Wir können bewundernd über die Fähigkeit der Sprache staunen, für neue Dinge, neue Lebensverhältnisse, neue Funktionen und Bedürfnisse Bezeichnungen zu erfinden und wir merken bei näherer Prüfung doch sehr bald, daß von hundert scheinbar neuen Wörtern, neunundneunzig nur mechanische Kombinationen aus dem alten Bestande sind und daß sie alle gar keine wirklichen und echten Wörter sind, sondern eben nur Bezeichnungen, Notbehelfe.

Was unseren Sprachen in den letzten zwei Jahrhunderten an neuen Vokabeln zugewachsen ist, ist an Zahl ungeheuer und staunenswert, aber an Gewicht und Ausdruckskraft, an sprachlicher Substanz, an Schönheit und echtem Gold ist es jämmerlich arm. Es ist zum größten Teil Inflationsgut.

Nehmen wir eine beliebige Seite einer beliebigen Zeitung in die Hand, so stoßen wir auf Dutzende von solchen Vokabeln, die es vor kurzem noch nicht gab und von denen wir nicht wissen, ob es sie Übermorgen noch geben wird. Solche Wörter, ganz ohne Tendenz einem beliebigem Zeitungsblatt entnommen, lauten etwa so: Tochtergesellschaft, Dividendenausschüttung, Rentabilitätsschwankung, Atombombe, Existentialismus.

Es sind komplizierte, lange und anspruchsvolle Vokabeln. Aber sie haben alle denselben Fehler: es mangelt ihnen eine Dimension. Sie bezeichnen, aber sie beschwören nicht. Sie kommen nicht von unten, aus der Erde und aus dem Volk, sondern von oben, aus den Redaktionsstuben, den Kontoren der Industrie, den Amtszimmern der Behörden. Alte, echte, gewachsene, goldene, gediegene und vollwertige Wörter aber sind: Vater, Mutter, Ahnen, Erde, Baum, Berg, Tal. Jedes von ihnen wird vom Hirtenbuben ebenso verstanden wie vom Professor oder Bundesrat.

Jedes von ihnen spricht nicht nur zu unserem Verstand, sondern auch zu allen Sinnen. Jedes beschwört eine Menge von Erinnerungen und Vorstellungen. Jedes meint etwas Ewiges, Unentbehrliches, Nichtwegzudenkendes.

Zu diesen guten, bedeutungsschweren Wörtern gehört auch das Wort Brot.

Man braucht es nur auszusprechen und das in sich einzulassen, was es enthält, so sind schon alle unsere Lebenskräfte, die des Leibes wie die der Seele angerufen und in Tätigkeit versetzt. Magen, Gaumen, Nase, Zunge, Zähne, Hände sprechen mit. Es fällt uns der Eßtisch im Vaterhause ein. Rundum sitzen die lieben vertrauten Gestalten der Kindheit. Vater oder Mutter schneidet vom großen Leib die Stücke und bemißt ihre Größe und Dicke, je nach dem Alter oder Hunger des Empfängers. In den Tassen duftet die warme Morgenmilch. Oder es fällt uns ein, wie es ganz früh am Morgen, noch bei halber Nacht, vom Haus des Bäckers her gerochen hat, warm und nahrhaft, anregend und begütigend, hungerweckend und ihn halb auch schon stillend. Und weiter erinnern wir uns durch die ganze Weltgeschichte hindurch alle Szenen und Bilder in denen das Brot eine Rolle spielt.

Die Worte von Dichtern melden sich und viele Worte der Bibel, und überall hat das Brot neben der nüchternen, alltäglichen Deutung auch noch eine höhere, bis hinauf zu jenem Gleichnis des Heilands bei der Stiftung des Abendmahls. Wir werden der Anklänge und Erinnerungen gar nicht mehr Herr. Sie fluten und quellen uns aus hundert Bildern großer Maler zu und aus allen Bezirken menschlicher Dankbarkeit und Frömmigkeit bis zu dem hohen, mystischen Klang in Sebastian Bachs Passion: Nehmet, esset, das ist mein Leib.

Statt einer so kleinen Betrachtung könnte man über das Wort Brot auch ein ganzes Buch schreiben.

Das Volk, der eigentliche Schöpfer und Bewahrer der Sprache, hat für das Brot Ausdrücke der Dankbarkeit und der Zärtlichkeit gefunden, von denen ich nur zwei zu nennen brauche, um wieder eine Reihe von Anklängen wachzurufen.

Das deutsche Volk spricht gern vom “lieben Brot” und die Italiener und Tessiner, wenn sie einen Menschen als wahrhaft gut bezeichnen wollen, nennen ihn “buono, come il pane”.

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages Frankfurt/Main.)

Zitat der Woche

„Oft ist die Welt schlecht gescholten worden, weil der, der sie schalt, schlecht geschlafen oder zu viel gegessen hatte.“

Aus Hermann Hesses Essay „Zarathustras Wiederkehr“, 1919